48 Stunden Kinderfrei
Endlich, die Gelegenheit mit Sarah nach Prag zu fahren und Ihr mein zweites, das unbeschwerte, das kindliche, das heimische Ich vorzustellen und mein Zuhause zu zeigen. Am Abend zuvor packe ich meinen Rucksack. Ein Wörterbuch brauche ich nicht, denn das Tschechische ist meine Muttersprache, aus deren Land ich noch als Kind gerissen wurde. Aber dafür nehme ich mein Teehausadressbuch, meinen Stadtplan und mein Telefonbuch mit allen wichtigen Kontakten zur tschechischen Szene mit.
Es ist 15 Uhr. Zwei Freundinnen sitzen im Bus und lehnen sich tiefenentspannt zurück. Jetzt erwarten uns 48 Stunden Kinderfrei, und Kronen haben wir genug. Bis Dresden schlafen wir in der Langenweile der monotonen Autobahn, aber ab hinter-da wachen wir auf und schauen links aus dem Fenster. Wir durchfahren die Böhmische Schweiz im späten Frühling. Alles blüht und die frühabendliche Sonne erleuchtet das Farbspiel der grünen Hügel und Berge vor unseren Augen. Wir fahren an dem Berg Říp vorbei und ich erzähle Sarah, dass dies der Berg ist, den der Urgroßvater Čech mit seinem Volk, der Legende nach, bestieg und verkündete:
„Zde je země zaslíbená, zvěře a ptáků plná, mlékem a medem oplývající.“
„Hier ist das gelobte Land, voller Wild und Vögel, mit Milch und Honig im Überfluss.“
Auch die tschechische Hymne von Josef Kajetán Tyl,
Kde domov múj (Wo ist mein Zuhause) gibt einen Einblick in die Liebe der Tschechen zu Ihrem Land.
Beiläufig sage ich Ihr, dass meiner Meinung nach, neben Tomáš Garrigue Masaryk, dem ersten tschechoslowakischen Präsidenten ab 1918, und Václav Havel, dem Letzten, und, nach der Teilung der Tschechoslovakei, ersten Präsidenten der Tschechischen Republik, es keinen gescheiten gab und wahrscheinlich je wieder geben wird. Denn sie beide waren Volksbürger und Visionäre!
Dicht neben uns glitzert das Wasser des Flusses Labe, der tschechischen Elbe, auf dem sich unzählige Kajakfahrer im Überholen üben.
Ich spüre die immer stärker werdende Anziehungskraft unseres Zieles. Nur schade, dass mir die ersten Atemzüge der reinen Heimatluft durch die Glasscheibe verwehrt bleiben.
Der Bus hält kurz an der Tankstelle und ich gehe uns schnell das Eis meiner Kindheit kaufen. Míša, ein Jogurteis, am Stiel überzogen mit dunkler Schokolade. Wir fahren weiter, doch das letzte Stück wieder über die Autobahn.
Am Hauptbahnhof angekommen jauchtze ich vor Freude, „Saraha, schau, wir sind da, endlich da!“, und nehmen die Straßenbahn nach Žiškov, einem im Prager Osten gelegenen Künstler- und Kneipenstadtteil, zum Haus meiner tschechischen Eltern.
Das Unvorhergesehene beginnt!
An einer Haltestelle steigt Bohoušek ein, ein Freund und Schauspieler, den ich seit über 15 Jahren nicht gesehen habe, und lädt uns am Tag darauf ins Theater ein, in dem er spielt. Natürlich sagen wir zu, es wäre auch Quatsch nach Prag zu fahren mit einem festen Zeitplan im Kopf. Das geht einfach nicht!
Vor der Haustür. Ich klingle, und Maruška, nur in T-Shirt und Unterhose, öffnet.
„Wozu mich bei dieser Hitze anziehen, wenn ich weiß, dass zwei Mädchen kommen.“ Sarah schaut erschrocken. Und ich denke ja, wir sind zu Hause, so kenne ich es.
Nach einem schnellen Abendessen, Kümmelbrot mit ca. einem Zentimeter Butter bestrichen, lädt uns Tomáš in eine Spelunke unter der Karlsbrücke ein, in der er in der Nacht mit einem Freund Musik spielt. Müde und mit Streichhölzern in den Augen sagen wir zu, denn morgen werden wir bis Mittag schlafen. Bei Weitem keine Fehlentscheidung. Die Stadt in der Nacht liebe ich sowieso am meisten. Ich breite meine Arme aus und laufe unberührt über die Karlsbrücke, vor mir die erleuchtete Prager Burg. Sarah hält sich an der rechten Seite der Brücke. Plötzlich ruft Sie: „Ich habe 5 goldene Sterne auf der Mauer entdeckt!“ Ich lächle und antworte traurig, „Ja, die gehören dem heiligen Jan Nepomucký, dem böhmischen Priester und Märtyrer, der unter Václav dem IV am 20. März 1393 zu Tode gequält wurde und an dieser Stelle in die Moldau geworfen wurde. Berühre die Sterne und wünsch Dir etwas.“
Was für eine schlimme Zeit es doch damals war, denke ich und bin genauso froh, dass die Zeit des Kommunismus, die ich selbst erlebte, vorbei ist und man nicht mehr mit der „Hand vor dem Mund“ durch die Strassen zu laufen verpflichtet ist. Obwohl - so erging es den Ostdeutschen ja auch. Und gerade davor wollten meine Eltern meinen Bruder und mich schützen und so sind wir vor fast 30 Jahren abenteuerlich nach Hamburg geflohen.
Wir gehen weiter über die Brücke in Richtung Kleine Seite, steigen linkerhand die Treppe hinunter und verirren uns in den kleinen verwinkelten Gassen. Alles ist erleuchtet im warmen Orange der Strassenlaternen. In einer Gasse bleiben wir vor einer unscheinbaren Tür stehen. Tomáš sagt: „ Hier ist die Kneipe Šatlava“ und lässt uns den Vortritt. Wir steigen einige Stufen hinab in einen verrauchten, mit Kerzenlicht beleuchteten Kellersaal. Mit einem Glas Wein in der Hand, nehmen wir drei Mädels Platz und Tomáš verschwindet mit seiner Hang Drum auf der Bühne, wo sein Freund mit der Gitarre schon wartet. Ich fühle mich wohl, schließe die Augen und denke das zweite Mal an diesem Abend ja, angekommen!
Der Raum ist nicht überfüllt, das ist angenehm. Es wird gesungen, gespielt und gelacht.
Ab und zu erzählen die beiden Anekdoten zu Ihren Texten. Der Wein fließt und atmen kann man bald nicht mehr - es geht uns gut!
In einer Spielpause fragt uns Maruška, was wir in Prag vor hätten. Sarah antwortet gleich “Ich möchte Tschechisch Essen gehen“ und ich füge hinzu „ Ja, Hühnerschnitzel mit Tatarka und Kartoffelsalat,
das wär was! Und nachdem wir laaange geschlafen haben will ich Sarah die Burg, den Wenzelsplatz mit der Statur des heiligen Václav, dem Landespatronen von Böhmen und Mähren zeigen, von dem erzählt wird, dass wenn es den Tschechen am schlechtesten geht, er auf seinem Pferd zu Hilfe angeritten kommt und auch die Statur des Einäugigen und später blinden Hussiten Jan Žiška, nach dem Žiškov benannt ist. Wenn noch Zeit bleibt, dann werde ich sie auf die in der Moldau liegende Insel Střelecký Ostrov führen, auf der mein Vater mit Bohoušek und anderen Künstlern in den Sommermonaten der späten 80er ein, vom damaligen Regime verhasstes, farbenfrohes Sommertheater gespielt hat, das von Jahr zu Jahr mehr mutige Anhänger und Zuschauer in seinen Bann zog. Mich als kleines Mädchen ebenso. Ja, und zwischen all dem gibt es jede Menge Gärten und Teehäuser.“
Sarah schaut mich mit offenem Mund an und fügt wie benebelt hinzu:
„ Morgen Abend sind wir schon in ein Theater eingeladen worden.“
Ich liebe es, wenn mich die Menschen flammend anstarren und meine Ideen gut heißen :) Die Musik spielt weiter und ein drittes Glas mährischen Weines steht vor uns.
Da erzähle ich einen Witz, der mir dazu einfällt.
„Sitzen zwei mährische Winzer beisammen und verkosten Wein.
Beim ersten: Ja, geht.
Beim zweiten: Neee, geht nicht.
Und beim dritten einstimmig: Geht nach Prag!
Alle lachen und der Gitarrist singt gerade einen Solosong über seine Großmutter. So geht die Nacht weiter, bis am nächsten Tag Maruška an unsere Zimmertür klopft.
„Mädchen, aufwachen, das Essen ist fertig.“ Ich blinzle vor mich hin und vernehme den Geruch von Gebratenem. Sarah schaut auf die Uhr und springt erschrocken auf.
„Es ist Mittag durch!“ Ich denke, was für eine schöne Nacht.
Im Koridor ist der Tisch gedeckt und zum „Frühstück“ gibt es Hühnerschnitzel mit Kartoffelsalat, Zitrone und Tatarka, und das alles von Mutti nach einer durchzechten Nacht. Ich liebe Sie!
Leipzig, Juli 2018