Es ist alles in Ordnung, Mama!
„Es ist alles in Ordnung, Mama! Die Untersuchung war negativ. Du kannst beruhigt mit Anton in den Urlaub fliegen.“
Ich musste es sagen. Meine Mama hat endlich wieder, nach Jahren, seit dem Tod meines Vaters, eine glückliche Beziehung. Wenn auch auf die Ferne, und um so wichtiger ist es, dass Sie zwei gemeinsame Wochen weit weg von jeglichen Sorgen miteinander verbringen. Denn nach Ihrer Rückkehr wird Sie Kraft brauchen, viel Kraft. Ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal wiedersehen, und wenn doch, dann in welchem Zustand ich sein werde. Bis zu Ihrem Abflug ist es noch eine ganze Woche, in der ich versuche, sämtlichen Kontakt mit Ihr zu meiden, den ich gerade jetzt am dringensten brauche. Noch zwei Tage, ein letztes gemeinsames Abendessen. Mama ist in großer Vorfreude und erzählt was alles Sie in Griechenland unternehmen und erleben wollen. Ich höre abwesend zu und wünsche mir nur, dass Sie endlich im Flugzeug sitzen!
„Wir sind gut angekommen!“ kommt mir eine Nachricht. Ich empfinde eine tiefe Erleichterung, denn jetzt habe ich zwei Wochen Zeit alles Notwendige zu erledigen. Zu der Zeit war ich noch in der Ausbildung und musste einige Formalitäten regeln, und ich hatte nun Zeit mein Leben zu genießen. Ich bin überrascht, wie es sein kann, dass ich 18 Monate in lebensgefährlichem Zustand gelebt habe, ohne es zu merken; es ging mir gut und ich hatte keine Schmerzen. Gut, dass ich es nicht wusste, denn mit dieser Information hätte ich es keine drei Wochen ausgehalten.
Es ist Mittwoch Abend. Morgen kommen Mama und Anton endlich zurück und ich bin noch da. Ich gehe einkaufen um etwas gutes zu kochen, sicher werden die Beiden hungrig sein. Dann kaufe ich noch eine Sonnenblume, die mag meine Mama so gerne, und einen Kuchen will ich auch backen, Apfelkuchen...- ja einen Apfelkuchen! Und am Freitag werde ich Ihr alles erzählen. Ich werde Ihr sagen... Aber ersteinmal der Donnerstag.
„Hallo Mama, schön dass Ihr wieder da seid!“
„Hallo mein Liebling, komm setz Dich, ich habe Dir sooo viel zu erzählen! Oh, wie die Blumen schön sind und der Kuchen... er schmeckt genau so wie Ihn Deine Großmutter immer gebacken hat...“
Ich höre nicht zu, bin abwesend, habe das Gefühl gleich zu explodieren. Drei Wochen habe ich geschwiegen aber jetzt kann ich nicht mehr, ich bin fertig.
„Mama, ich muss Dir etwas sagen!“
„Oh, was denn?“
„Ich habe Dich angelogen! Die Untersuchung ist nicht gut ausgegangen. Es hat sich eine Zyste um den Tumor gebildet und ich werde am Dienstag operiert werden, ich weiß nicht ob und wie ich aufwache...“
„Aber Du hast doch... .“
„Ja, ich wollte dass Du und Anton in den Urlaub fliegt. Hätte ich es Dir vorher gesagt, so wärst Du nicht geflogen!“
„Aber...?“
Ich weiß nicht mehr wie das Wochenende war, mit wem ich gesprochen oder wen ich gesehen habe. Ich war einfach nur glücklich, dass meine Mama wieder da war. Zu gerne hätte ich auch Papa an meiner Seite gehabt, aber er ist vier Jahre zuvor bei einem Mororradunfall ums Leben gekommen. Und so war Sie, gemeinsam mit meinem Bruder, meine einzige leibliche Verbindung.
Montag Nachmittag. Mama bringt mich ins Krankenhaus und wird von nun an über Monate nicht von meiner Seite weichen! Eine schwere und schwierige Zeit steht Ihr und allen um mich herum bevor. Nur ich selbst scheine die Ausmaße nicht zu erkennen. Das Krankenhaus bin ich seit Babyalter gewohnt, geplant oder akut. Ich habe keine Ahnung!
Die Operation verlief ohne Komplikationen. Die Haare wurden mir nur an der Eingriffsstelle entfernt. Der Herr Profesor, der Schwiegervater einer Freundin, war ein Name in der Neurochirurgie, weltweit.
Am zweiten oder dritten Tag nach dem Eingriff bin ich aufgewacht. Stille... überall... ich hatte keine Schmerzen, nur einen nichtauszuhaltenden beidseitigen Tinitus. Sprechen konnte ich, nur hören nicht mehr. Ich habe meine Mama erkannt und ich wusste meinen Namen. Die Welt war in diesem Zimmer, darüberhinaus denken konnte ich nicht!
Jahre zuvor habe ich die Gebärdensprache angefangen zu lernen und nun kam sie mir zu Nütze. Ich hatte eine Freundin, eine Gebärdensprachdolmetscherin, die vom allerersten Anfang dieses Kapitels an meiner Seite stand. Mit Ihr habe ich Tag ein Tag aus gebärdet, einfach und langsam, da ich zu mehr noch nicht im Stande war. Ich weiß noch, die Ärtzte, meine Mutter,- alle waren dagegen. Sie sagten ich müsse sprechen um es wieder zu finden. Aber mir war das egal! Ich habe mich ja nicht gehört. Die Mundsprache war nicht mehr wichtig für mich, ich hatte ja zwei Hände. Ein Druck lastete auf mir: Ich müsse doch, ich müsse doch, ich müsse doch!
Aber war es nicht so, dass meine Aussenwelt mich nicht verstand, da diese die Gebärdensprache nicht konnte? Anna wurde vorgeworfen mit mir zu gebärden und ich wurde als „Neugeborenes“, in meinem zweiten Leben, genötigt mich der Lautsprache zu bedienen. Dabei hatte ich genug damit zu tun gehabt die Welt wieder zu entdecken und meine temporär verloren gegangenden Fähigkeiten, das Laufen, das Schreiben, das Erinnern, wieder zufinden. Mein Tinitus forderte täglich mehrere Kopfschmerztabletten und meine Beine wollten mir Anfangs nicht gehorchen, des Öfteren bin ich einfach zusammengeklappt. Lustigerweise konnte ich auf Anhieb, wenn einfach und langsam und deutlich gesprochen wurde, von den Lippen meines Gegenüber absehen. Dieser musste mich jedoch genau anschauen, und durfte keinen Bart tragen.
Ich weiß noch, da war ich noch ertaubt, als ich nach ca. zwei Wochen etwas leuchtendes am Nachthimmel sah... „Stimmt, das ist der Mond!“ Ich hatte ganz vergessen, das es Ihn gab und habe Ihn wieder entdeckt. Und so habe ich fast alles, wie ein Kleinkind, nur mit knapp 22 Jahren, wiedererlernt und erfahren. Ein Schritt in die Selbstständigkeit... innere, unendlich tiefe Freude und Stolz. So ging ich kaum mehr auf die Toilette ohne mein Schreibbuch und einen Stift. Es war meine Verbindung zur Außenwelt. Wehe dem, ich habe es verlegt oder jemand hat besserwissend aufgeräumt!
In der Reha dann kam ganz langsam mein Gehör zurück, und mit Ihm die Orientierung und die Geistesklarheit! Der ganze Genesungsprozess wurde begleitet von nächtlichen Albträumen, z.B.
Eines Nachts hat ein Kobold mir mein Papier und Stift weggenomen und ist damit im Bad in einem Lüftungsschacht verschwunden.
Als ich „aufwachte“, so bin ich schreiend zur Nachtschwester gerannt, „Jemand hat mein Papier und Stift weggenommen!!!“, und habe Ihr gezeigt wo der Kobold im Badezimmer verschwunden ist. Diese hat teilnahmslos versucht mich zu beruhigen und hat mich wieder ins Bett geschickt.
Und solche Erlebnisse gab es andauernd, in dieser Art hat meine Verarbeitung stattgefunden.
Nicht immer konnte ich es jemandem erzählen, da es einfach zu viele waren!
Heute, knapp zehn Jahre später und fünf Jahre seit meiner letzten Akutoperation, habe ich meine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin beendet und lebe glücklich und verliebt mit meinem vier-jährigen Sohn und dessen Papa in meiner neuen Wahlstadt: Leipzig. Ich bin mir meiner Einschränkungen wohl bewusst, werde mit diesen meist akzeptiert und in Ihnen unterstützt. Ich bin dankbar, alles auf meine Weise selber tun zu können, und das auch deswegen, da ich von meinen Eltern nie mit weißen Handschuhen angefasst wurde, und schon früh gelernt habe, für mich, und nun auch für meine eigene kleine Familie, auf bestimmte Weise sorgen zu können.
Ein mir wichtiger Mensch hat einmal gesagt:
Ich sei nicht geschaffen für eine Arbeit „guter Ordnung“.
Das stimmt, aber ich versuche auf meine Weise der Welt Gutes zu tun!
Leipzig, März 2016
Diese Kurzgeschichte ist im Rahme eines Schreibaufrufes der Gruppe WortArt unter dem Thema "Zweite Chance" entstanden.